Mein Herz schmerzt. Mir ist, als ob erst jetzt – sechs Monate nach dem Tod meiner Schwester – meine Seele das Geschehene so richtig erfassen kann. Mir ist, als ob meine Gefühle zuvor gedämpft gewesen wären. Mich hat selbst überrascht, wie gefasst ich zum Teil gewesen bin. Mich hat auch überrascht, wie wenig mir bestimmte Erlebnisse bewusst waren. Ich habe mich sehr oft bei meinen Besuchen auf der Palliativstation gefragt, ob mich diese Bilder mein Leben lang begleiten werden. Es fühlte sich so an, als ob sich bestimmte Momente tief im Inneren einbrennen würden. Die ersten Wochen und Monate nach dem Tod meiner Schwester waren dann wie in Nebel getaucht. Einmal habe ich sogar zu meinem Mann gesagt, dass ich nicht ganz verstehe, dass mir so wenig „unterkommt“.
Schmerzende Bilder
Das ist jetzt anders. Schwächelt der Körper, schwächelt die Seele. Mein langes Kranksein nimmt mich mit. Ich bin weinerlich, fühle eine große Leere und muss mit den Bildern umgehen lernen, die jetzt plötzlich in völliger Klarheit da sind. Das sind keine schönen Bilder. Es ist nicht schön anzusehen, wenn ein Körper so schnell verwelkt, wenn das Leben so rasch aus einem jungen Menschen weicht. Das schmerzt ungemein. Mir ist, als ob ein Fluss an Trauer aus meinen Augen quillt. Jetzt kann ich plötzlich weinen, denn alles schmerzt. Meine Schwester musste viel zu früh gehen.
Braune und grüne Blätter
Doch was wäre der passende Moment gewesen? Hätte es diesen überhaupt jemals gegeben? Ich lese in einem Buch des buddhistischen Mönchs Ajahn Brahm1 über das Wesen des Todes. Darin schreibt er, dass die “obsessive Suche nach der Antwort auf das Warum” quält. Davon will er Betroffene „wegführen“ und erzählt ihnen immer eine Parabel von einem Mönch, der ganz allein in einer Strohhütte im Urwald wohnte. Eines Abends kam ein heftiger Sturm auf. Als der Morgen hereinbrach und der Sturm sich legte, ging der Mönch nach draußen. Er wollte nachsehen, welchen Schaden der Wind angerichtet hatte. Da fielen im unzählige Blätter auf, die sehr dicht den Boden bedeckten. Es waren überwiegend braune, alte Blätter, die „ohnehin ihr Leben hinter sich hatten“. Dazwischen gab es noch einige gelbe Blätter. Der Mönch sah allerdings auch ein paar wenige grüne, ganz junge Blätter. Ajahn Brahm erklärt: „Wenn die Stürme des Todes durch unsere Familien ziehen, nehmen sie normalerweise die Alten mit, die ‚gefleckten braunen Blätter‘. Sie verschonen auch nicht jene mittleren Alters, eben die gelben Blätter, und es sterben auch junge Menschen in der Blüte ihres Lebens wie die grünen Blätter. … Das ist das Wesen des Todes. … Das ist der Lauf der Natur. Wer beschuldigt den Sturm?“
1 Die Kuh, die weinte . Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück. Lotos Verlag: München. ISBN: 978-3-7787-8183-8.