Mein Alltag hat sich eingependelt nach dem Tod meiner Schwester. Umgeben von zwei kleinen Kindern bin ich eingehüllt in deren unverblümte Lebensweise. Sie lehren mich das Kommen und Gehen von Gefühlen in einer großen Bandbreite. Herzhaftes Lachen wechselt oft im Minutentakt mit herzzerreißendem Weinen. Unbändige Wut gleitet in friedfertiges Verzeihen über. Ich staune immer wieder, wie rasch sie sich dieser Emotionen bedienen können, wie schnell sie abwechseln und wie heftig sie mitunter auftreten und einen Lidschlag später verschwinden.
Wut und Traurigkeit
Kurz nach dem Tod meiner Schwester machte mir vor allem ein Gefühl am meisten zu schaffen: Wut. Ich konnte sie – einmal wahrgenommen bei einem meiner Kinder – nicht von mir loslösen. Sie zog mich an und riss mich mit. Der Adressat, auf den sich dieser Zorn bezog, war stets der gleiche: Das Leben an sich. Alles erschien mir unbewusst ungerecht. Bewusst wurde mir es dann, wenn ich mich von Wutanfällen meiner Kinder „anstecken“ ließ und am Ende erkennen musste, dass meine Wut mit der ihren nicht zu vergleichen war, weil sie viel tiefer ging.
Plötzliches Übertönen
Nun dominiert eine andere Emotion, die stets im Hintergrund mitschwingt: Traurigkeit. Sie ist immer da, wird aber von den Tönen des Alltags überstimmt. Kehrt Ruhe ein, höre ich sie umso deutlicher. Diese Momente kommen mitunter so überraschend für mich, dass sie mir Angst bereiten. Denn in dieser Stille tönt die Traurigkeit mit einer Stärke, die mir die Tränen in die Augen treibt. Alles vibriert und hallt dumpf in meiner Brust. Fast im Duett tauchen gleichzeitig Bilder meiner Schwester vor meinem geistigen Auge auf. Sie zeigen sie lachend, weinend, gesund, todkrank. Diese tiefgründige Traurigkeit ist schwer auszuhalten. Und gehört dennoch dazu. Sie geht nicht weg, schwingt immer mit – mal leise, mal laut. Dieses Nicht-Weggehen ist es auch, was den Unterschied zwischen Trauer und Traurigkeit ausmacht. Traurigkeit ist ein vorübergehendes Gefühl, Trauer ist vielschichtiger und zeigt sich auf vielen Ebenen: körperlich, sozial oder emotional.
An manchen Tagen ist mir dieser dumpfe Trauerton regelrecht lästig. Ich sehne mich dann nach der Unbeschwertheit vergangener Zeiten, nach einem Leben, das sich leichter lebt. Und dann weine ich, wieder. Wie auf Knopfdruck kommt dann meist eines meiner Kinder zu mir, vom sechsten Sinn angezogen. Ich wische die Tränen weg, atme durch und mache weiter. So wie sie, die jede Emotion leben, loslassen und weitermachen.