Ich erwache in letzter Zeit immer wieder mit Bilderfetzen im Kopf. Sie sind Zeugnis turbulenter Träume. Träume, in denen ich mir bewusst bin, dass ich träume, aber schon währenddessen von den lebhaften Geschehnissen dieser Nachtbilder meines Gehirns ergriffen bin. Es sind Träume von Verlust, von Schmerz, aber auch von Liebe und Geborgenheit. Kommt meine Schwester darin vor, versuche ich noch im Traum mir alle Details einzuprägen. Ich höre mich direkt sagen: „Halte alles fest, sieh sie dir ganz genau an!“ Noch während des Träumens bin ich mir dessen bewusst, dass ich die Klarheit ihrer Erscheinung nach dem Aufwachen nicht mehr habe, sie mir entwischt, wieder und wieder. Im Traum selbst ist sie aber lebendig mit all ihren einzigarten Details – mit ihrer Stimme, mit ihrer Erscheinung, mit ihrer Art zu sein und zu leben. Alles ist so klar und schön, dass der Schmerz nach dem Erwachen umso bitterer ist. Denn die bloße Erinnerung im Schein des wachen Bewusstseins ist im Vergleich zu diesen reinen Traumbildern nur ein müder Abklatsch, ein farbloses schmerzendes Irgendwas. Ich staune immer wieder darüber, dass unser Gehirn im Traum ein Bild erschaffen kann, das in der Erinnerung im Wachzustand völlig anders erscheint.
Verblassende Erinnerungen
Das schmerzt, denn mit der Erinnerung stehe ich gerade auf Kriegsfuß. Je mehr Zeit seit ihrem Tod vergeht, umso detailärmer wird sie. Der Klang der Stimme meiner Schwester verhallt allmählich, die Feinheiten ihrer Gesichtszüge kommen mir abhanden, das genaue Abbild körperlicher Details wie etwa ihrer Hände entrinnt. Zum Glück gibt es Fotos und Videos, könnte man glauben. Doch damit kann ich noch nicht umgehen. Es schmerzt zu sehr, mir die Erlebnisse, die mit vielen Fotos verknüpft sind, ins Bewusstsein zu rufen. Videos gehen noch überhaupt nicht. Dazu braucht es mehr Zeit. Und so bleibt mir aktuell nur meine verblassende Erinnerung – besser als nichts, aber glanzlos im Vergleich zu dem, womit mein Gehirn in meinen Träumen auftrumpft. Wäre da nicht die schmerzende Erkenntnis nach dem Erwachen, dass alles vorbei ist, würde ich mir jede Nacht wünschen, von meiner Schwester zu träumen.
Gefangen im Albtraum
Ganz anders als bei meinem Vater, bei dem ich in den ersten Monaten nach seinem Tod regelrecht Angst vor einem Traum von ihm hatte. Es waren furchtbare Bilder, die mich nachts verfolgten. Schmerzverzerrte Gesichter, rastloses Gebaren, finstere Orte. Je mehr ich mich mit seinem Tod auseinandersetzte, umso mehr Ruhe kehrte auch in meinen Träumen ein. Bis ich eines Tages ein ganz friedliches, liebesvolles Traumerlebnis mit ihm teilen konnte. Das ist lange her und dennoch sehr präsent in meinem Kopf. Und das ist es wohl, was Träume ausmacht. Sie geben uns Bilder, die oft klarer sind als unsere bloße Erinnerung. Ein Geschenk, das ich bei meiner Schwester gerne annehme – wann immer der nächste Traum von ihr anklopft.