Ich mache Yoga. Noch nicht lange und nicht regelmäßig, aber immerhin. Entgegen meiner Erwartungen tut es mir gut. Nicht nur meine Seele krampft derzeit immer wieder vor Schmerz, auch mein Körper ist verspannt. Das Lösen dieser tiefsitzenden Verspannungen kann auch tiefsitzende Gefühle hervorrufen, klärt mich die Trainerin auf. Ich stutze. Denn das ist etwas, was ich momentan überhaupt nicht brauche. Gefühle habe ich wahrlich genug schon an der Oberfläche, da brauche ich nicht auch noch tiefsitzende.
Laute Gefühle
Ich lasse mich dennoch darauf ein und habe dann weniger Probleme mit diesen schlummernden Gefühlen als vielmehr mit der Ruhe in diesem Kurs. Ich bin sie schlichtweg nicht gewöhnt. Umgeben von dem quirligen Leben meiner Kinder ist Stille etwas, das ich gerade am allerwenigsten habe. Wird es im Kurs ruhig, werden Gefühle in mir laut. Fast wie auf Knopfdruck muss ich dann weinen – auch mitten im Yogakurs. Die vielen Eindrücke von der Zeit, als meine Schwester auf der Palliativstation lag, dieses Meer an verstörenden, schmerzenden, liebevollen, zärtlichen und traurigen Bildern bahnt sich seinen Weg an die Oberfläche, sobald in meiner Umgebung Ruhe einkehrt. Als uns die Yogalehrerin dann auch noch auffordert, unsere Hände zu reiben und die warmen Handflächen auf unser Herz zu legen, muss ich schlucken. Einen kurzen Moment verharre ich unbeweglich, weil mir ein ganz spezielles Bild sofort unterkommt und mich mit Trauer füllt: Es ist das letzte Bild, das ich mit dem Körper meiner Schwester verbinde: Ich sitze im Krankenhaus neben ihrem kalten Leichnam, spüre ihren toten Körper und lege schließlich meine Hände auf ihr Herz. Ich fühle die letzte Wärme ihres physischen Daseins und muss so heftig schluchzen, dass ich selbst erschrecke.
Erkaltendes Herz
Sie ist tot, habe ich damals gedacht und mit allen Sinnen begriffen. Jetzt ist sie weg aus ihrem Körper. Großer Kummer überfällt mich im Yoga bei dieser Erinnerung. Ein mittlerweile vertrautes Gefühl. Ich muss erst lernen, mit dieser schwerwiegenden Emotion so richtig umzugehen. Was mir hilft, ist das Wissen, das meine Schwester nicht gewollt hätte, dass ich und alle anderen in der Trauer untergehen. „Das Leben geht weiter“, waren ihre Worte. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen, meines aber schlägt. Es schlägt für meine Familie, für meine Freunde und für alle jene Menschen, die mir voraus auf die andere Seite des Weges gegangen sind.