Es ist nun bald ein Jahr her, als ich den alles verändernden Anruf von meiner Schwester erhalten habe. „Ich habe Gelbsucht“, waren ihre Worte am Telefon.
Gefühlswechselbad
Ab diesem Zeitpunkt war nichts mehr so, wie es einmal war. Ich befand mich in den folgenden Tagen und Wochen bis zu ihrem Tod in einem Wechselbad der Gefühle. Angst, Hoffnung, Trostlosigkeit, Verbitterung, Wut und Ohnmacht waren ständige Begleiter, wechselten oft im Minutentakt. Wenn ich heute an diese Zeit denke, kann ich es nicht fassen, wie schnell und gleichzeitig langsam dieses eine Jahr vergangen ist. Oft wünschte ich mir in diesen Wochen nur, dass die Zeit den Schmerz des Verlustes endlich lindern würde. Dann wieder erschrak ich, weil ich die Monate verstreichen und die Erinnerung an sie ein Stückchen weit verblassen sah. Was ist besser?
Noch einmal ihre Stimme zu hören, noch einmal mit ihr zu sprechen, noch einmal ihre Hand halten zu können – was wäre es mir wert?
Im Unterschied vereint
Sie fehlt – an allen Ecken und Enden, fast noch mehr als kurz nach ihrem Tod, wo der Schock noch so tief saß. Sie fehlt, obwohl wir uns nicht täglich gesprochen und uns nur alle paar Wochen gesehen haben. Sie fehlt, weil ich ganz einfach das Gegenüber nicht mehr habe, das sie doch stets zu mir gebildet hat. Ich habe mich über meine Schwester definiert, wie sich eben kleine Kinder an ihren großen Geschwistern orientieren. Mir fehlt diese Orientierung. Sie macht mich unsicher und unentschlossen. „Was würde Ihnen jetzt Ihre Schwester raten?“, hat mich meine Psychologin einmal gefragt, als ich von diesem Dilemma berichtete. Die Antwort kam mir sofort in den Sinn. Wie eine innere Stimme wusste ich plötzlich, was zu tun war. Es war, als würde meine Schwester neben mir sitzen, vertieft in ein gemeinsames Gespräch. Es war, als würde sie doch noch mit mir sprechen. Das schmerzt so sehr und zaubert mir gleichzeitig ein Lächeln ins Gesicht. Denn tief in mir spüre ich, dass sie noch da ist – meine große Schwester!