Während ich die letzten Wörter meines vorherigen Eintrages zu Ende bringe, lichtet sich plötzlich der Himmel über mir im Garten und die Strahlen der Abendsonne erwärmen mein Gesicht. Es ist, als ob mir meine Schwester sagen würde: Da bin ich doch! Glaube nur! Erneut füllen Tränen meine Augen. Es stört mich nicht. Im Gegenteil: Es tut gut, in Ruhe weinen zu können; in Ruhe meine Traurigkeit zu spüren; in Ruhe meinen Verlust anzunehmen.
Immer wieder Angst
Im turbulenten Alltag ist mir meine Trauer allerdings lästig. Sie schwächt und macht Angst. Angst, dass sie mich wieder körperlich in die Knie zwingt und ich wieder von einem Infekt zum nächsten jage. Angst, auch einmal so schwer zu erkranken. Angst, auch so früh und so tragisch zu sterben. Die Angst ist eine gefährliche Emotion, weil sie dann an Stärke gewinnt, wenn wir sie ständig zu unterdrücken versuchen. Doch was tun? Ich weiß momentan einfach noch nicht, wie ich mich meinen Ängsten stellen kann, ohne mitgerissen zu werden in Tiefen, die ich noch nicht zu erkunden bereit bin. Am liebsten würde ich sie einfach abstreifen. Das geht aber nicht. Wenn dann also meine Kinder schlafen, setze ich mich bewusst in den Garten, um innezuhalten und mich meinen Gefühlen zu stellen. Und während ich so auf der Gartenbank sitze, ist es dann nicht Angst, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnt, sondern das dringende Bedürfnis, die Zeit festzuhalten und am Weitergehen zu hindern. Mein Blick fällt nämlich auf unsere Hühner, die sorgenlos ihr Dasein fristen, und mir wird schlagartig bewusst, wie viel sich in den vergangenen elf Monaten seit dem Tod meiner Schwester verändert hat.
„Schwesterherz, wir haben Hühner!“, will ich regelrecht hinausschreien. Du hast sie nicht mehr gesehen! Das Leben geht so schnell, zu schnell, weiter und du bist nicht mehr Teil davon. Was ich dir alles erzählen müsste, wenn wir uns heute wiedersehen würden! Die Hühner, ja, doch viel wichtiger noch die kleinen und großen Errungenschaften meiner Kinder, mein Einstieg ins Arbeitsleben nach der Karenz, meine neue Neffen … Wir müssten Stunden sprechen und können es doch nicht.
Frieden finden
„Das Leben geht weiter“, hast du zu uns gesagt. Ja, das tut es. Doch dieses Weitergehen verursacht mir Schmerzen, weil ich so vieles nicht mehr mit dir teilen kann. „Schade, dass mich deine Kinder nicht besser kennenlernen konnten“, waren weitere Worte aus deinem Mund. Ich konnte damals nichts auf diesen Satz antworten und kann es heute noch immer nicht. Das Bedauern darüber sitzt so tief, dass es mir den Hals zuschnürt. Meine Kinder allerdings sprechen viel von dir, von der besten Tante der Welt, wie sie sagen. Sie reden aber auch viel von ihrem Opa, den sie nicht einmal kennenlernen konnten, weil er viel zu früh von uns ging. Meinen Kindern gelingt damit etwas, was ich noch lernen muss: unbefangen über deinen Verlust zu sprechen, von dir zu reden, als wärst du noch hier auf dieser Welt, dein Sein mit Erinnerungen lebendig zu halten. Bei meinem Vater kann ich das. Sein Tod ist Teil meiner Geschichte, die ich annehmen kann. Dein Tod hingegen bereitet noch so viel Leid, wirft noch so viele Fragen auf und macht es mir damit unmöglich, in Frieden den Verlust zu akzeptieren. Insofern ist in diesen elf Monaten, die du nicht mehr mit mir teilst, nicht viel passiert.