Ich lese kürzlich einen Beitrag über sogenannte „Letzte-Hilfe-Kurse“ und stutze. Diesen Begriff habe ich zuvor noch nie gehört. In diesen Kursen geht es darum, sich mit dem Tod und damit verbundenen Themen wie Leichentabu, Umgang mit Hinterbliebenen oder Abschied von Verstorbenen quasi präventiv auseinanderzusetzen, um für den Fall des Falles „gerüstet“ zu sein.
Leichentabu – ein weiteres mir unbekanntes Wort. Was ist damit gemeint? Ich finde nicht viel darüber, nur: Früher glaubte man an Leichengifte und an die „Ansteckbarkeit“ des Todes. Ein Todesfall im nahen Umfeld würde weitere Todesfälle nach sich ziehen. Das Leichentabu war damit ein Berührungsverbot, um sich vor Krankheiten zu schützen. Tote Körper lösen aber auch heute noch Ängste aus – auch bei erfahrenen Pflegerinnen und Pflegern. Die Angst vor dem Geist von Verstorbenen etwa oder die Angst, dass der oder die Tote die Augen plötzlich wieder öffnen könnte.
Liebe gibt Kraft
Ich stutze erneut. Diese Angst kommt mir nämlich sehr bekannt vor; ich habe sie selbst erfahren, als ich neben dem Leichnam meiner Schwester auf der Palliativstation saß. Nachdem ich meine Seele in dem kleinen Zimmer leer geweint hatte, wurde es still in mir und um mich herum. Sehr still. Irgendwann tauchte dieser völlig befremdlich wirkende Satz in meinem Kopf auf: Was, wenn sie jetzt die Augen aufmacht! Ich zuckte zusammen, mein Herz raste. Sofort tadelte ich mich selbst. Wie kann ich nur so einen Blödsinn denken und dann auch noch Angst bekommen?* Ich konnte mich selbst beruhigen mit dem Wissen, dass ich nur die Tür aufmachen und zu einer mir bekannten Pflegerin gehen musste, die mich sicherlich verstehen würde. Ich konnte mich aber auch deswegen beruhigen, weil mir die Liebe, mit der ich diesen toten Körper betrachtete und berührte, Kraft gab. So ungläubig es klingt: Ich wusste, dass ich diese Zeit hier alleine mit dem Leichnam meiner Schwester brauchte, um mich in der Art und Weise zu verabschieden, die für mich richtig war. Das konnte ich damals bei meinem Vater nicht. Ich habe ihn nie tot gesehen. Ist es zumutbar, einem 14-jährigen Mädchen den toten Vater zu zeigen, der mit den eigenen Händen den Knoten des Seiles gebunden hat? Ich weiß es nicht und hadere heute auch nicht damit. Ich konnte aber lange nicht begreifen, dass mein Vater wirklich tot ist, weil ich mich nicht verabschieden konnte. Von meiner Schwester aber konnte ich es. Und so sehr dieser Anblick schmerzte, so wichtig war er für mich. Ich fühlte so stark, dass sie das hier nicht mehr war, dass sie ihren leblosen Körper als Hülle nicht mehr brauchte, weil ihr Geist nun woanders ist. Ich habe bei einem der letzten Besuche auf der Palliativstation einmal zu ihr gesagt: „Bitte sei bei uns, wo immer du auch bist!“. Ich fühlte bei diesem Abschied, dass sie ganz nah bei mir war.
Quelle:
*Ich spreche mit meiner Psychologin über diese konkrete Angst und sie fragt mich: „Woher glauben Sie, kommt diese Angst, dass sie die Augen öffnen könnte?“ Ich überlege und antworte: „Von dem Wunsch, dass sie es tatsächlich tut.“ „Ja.“