Vor fast genau einem Jahr hat mein körperliches Gebrechen begonnen. Von einem Moment auf den anderen ging fast nichts mehr: Ich spürte eine große Schwäche, fühlte mich nicht mehr imstande, meine täglichen Aufgaben zu bewältigen. Ich zitterte, schwitzte und spürte einen Druck auf der Brust, der mir das Atmen schwer machte – mir fehlte Luft, Luft zum Leben. Daraufhin bekam ich Infusionen zur Kräftigung und konnte meine Schwester fünf Tage lang nicht besuchen. Als es endlich wieder halbwegs ging, fuhr ich sofort ins Krankenhaus. Mein Kopf war voll mit Dingen, die ich ihr unbedingt noch sagen, die ich unbedingt noch mit ihr klären wollte. Ich freute mich richtig, sie wieder zu sehen.
Ich bin zu spät
Als ich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, wurde mir mit einem Schlag klar, dass ich zu spät bin. Ich blickte mich kurz um, nahm dann leise auf einem Stuhl Platz und wagte es lange nicht, irgendetwas zu sagen. Hier stimmte etwas nicht. Nur was war passiert? Nach einer Weile ging ich wieder nach draußen, setzte mich in den Aufenthaltsraum und weinte. Ein Pfleger nahm mir gegenüber Platz und klärte mich auf. Die Schmerzen wurden zu groß, meine Schwester bekam das erste Mal sehr starke Schmerzmittel und befand sich in einem Dämmerzustand. Außerdem konnte sie nicht mehr sprechen.
Chance vertan
Wie ich so dasaß und weinte, wurde mir klar, dass jetzt das Sterben beginnt; dass ich mit diesem Tag meine Schwester schon ein Stück weit loslassen musste; dass das, was einmal war, nicht mehr ist und nie wieder sein wird. Ich war abgrundtief traurig, auch deswegen, weil ich dieses „Ich bin zu spät“ nicht loswurde. Die Chance war vorbei. Mein Paket an Dingen, die ich noch mit ihr klären wollte, musste ich wieder mit nach Hause nehmen. Es ist rückblickend für mich besonders hart anzunehmen, dass gerade in jener Woche meine Kräfte versagten, in der ich noch die Chance hatte, mit meiner Schwester verbal zu kommunizieren. Das Leben kann gemein sein.
Achtsamkeit für den Augenblick
Dafür setzte mit diesem Tag ein anderes Erleben ein. Ruhe und Achtsamkeit kehrten in das Zimmer auf der Palliativstation ein. Ich spüre heute noch, wenn ich intensiv an diese Zeit denke, wie bewusst ich jeden einzelnen Moment erlebt habe; wie schön und traurig zugleich ich es empfand, wenn ich neben meiner Schwester liegen und sie streicheln konnte. Dieses beginnende Sterben hat mir viel genommen, aber auch etwas gegeben: Die Achtsamkeit für den Augenblick.