Wie kann ein Jahr nur so schrecklich langsam und gleichzeitig so schnell vergehen? Wie kann sich der Todestag meiner Schwester bereits zum ersten Mal jähren? Das waren Gedanken, die mich heute beim Aufstehen begleiteten. Ich blicke auf ein aufwühlendes, schmerzendes, zermürbendes Jahr zurück. Ein Jahr, das mich körperlich an meine Grenzen brachte, mich seelisch aber wachsen ließ. Ich habe viel erlebt in diesem Jahr: viel Schmerz, viel Trauer, viel Krankheit, aber auch viel Dankbarkeit, viele gute Gespräche, viele wunderbare, tröstende Momente. Ich habe in diesem Jahr gelernt, wie groß das Vermissen sein kann und wie sehr es sich trotzdem auszahlt, Vergebung und Akzeptanz in einem selber zu suchen. Ich habe gelernt, wie ungerecht das Leben mitunter ist und wie notwendig es dennoch erscheint, nicht daran zu verzweifeln. Warum? Weil immer ein Morgen nach dem Regen kommen kann, an dem der Nebel aufklärt und uns die Sonne Wärme und Trost spendet.
Meine Schwester ist tot. Sie kommt nie wieder in diese Welt. Das bringt mich noch immer innerhalb von Sekunden zum Weinen. Sie fehlt mir ungemein – als Stütze, als Orientierungspunkt, einfach als große Schwester, mit der ich mein bisheriges Leben teilte. Nach ihrem Tod klafft ein Loch.
Unbeantwortete Fragen
„Der Tod ist unbegreiflich“ lautete mein erster Blogeintrag im Oktober 2018. Damals, wenige Monate nach ihrem Tod, konnte ich es einfach nicht begreifen, dass sie nie wieder kommt, dass ich sie damals im Krankenhaus zum letzten Mal berührt, zum letzten Mal ihre Wangen gestreichelt, zum letzten Mal ihre Hände gehalten habe. Wie geht es mir heute mit diesem Begreifen? Was hat sich geändert? Dieses betäubende Gefühl der Überforderung mit dem Geschehenen ist weg. Ich begreife, dass meine Schwester tot ist, auch wenn mich der Schmerz bei diesem Gedanken regelrecht überrollt. Was ist nicht begreife, ist, warum uns so wenig Zeit blieb, warum alles so schnell gehen musste, warum so viele medizinische Fehler passiert sind, warum sie überhaupt erkrankt ist. Das sind Fragen, die mich noch länger beschäftigen werden, deren Beantwortung mir aber verwehrt bleibt. Ich brauche mich nur in meiner näheren Umgebung umzublicken, um zu sehen, wie das Schicksal wahllos zuschlägt – von einem Tag auf den anderen kann alles anders sein. Ich, meine Familie, sind nicht die Einzigen. Die Tatsache, dass ich mit dem Tod meines Vaters und meiner Schwester bereits zweimal ein so tragisches Erlebnis durchmachen musste, ist es, die mir an manchen Tagen am meisten zu schaffen macht. Ganz einfach deshalb, weil mir die Angst in den Knochen sitzt.
Heftige Winde des Schicksals
Diese Angst zieht Energie, lässt Vertrauen schwinden und sorgt für Missmut. Das will ich aber nicht. Zu viele Jahre habe ich nach dem Tod meines Vaters in einem grässlichen Nebel des Schmerzes und Selbstmitleides verbracht. Meine Schwester hat mir in ihren letzten Lebenswochen gezeigt, dass jeder Augenblick zählt, dass es sich immer lohnt, mit Würde und Stärke den Herausforderungen des Lebens zu begegnen, dass man den heftigen Winden des Schicksals nicht hilflos ausgeliefert ist, dass man mit Zusammenhalt, Ehrlichkeit und Tapferkeit vieles leichter ertragen kann. So groß der Schmerz ist, so dankbar bin ich für diese Lektion.
An diesem ersten sich jährenden Todestag habe ich mir nicht viel vorgenommen. Ich denke in Stille und mit Ehrgefühl an eine wahrhaft tapfere Frau. Auch wenn ich sie nicht mehr sehen und berühren kann, auch wenn der Schmerz darüber noch immer heftig pocht, spüre ich zutiefst, dass sie noch bei mir ist, dass es ihr gut geht und sie als schützender Engel über uns wacht.
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ich besuche öfter deine seite. du bist so ehrlich, hast dir schon viel mitgemacht. du bist eine kämpferin, ich wünsche dir alles alles gute, kopf hoch. zum trost ich nehme auch eine tablette voller glück. liebe grüsse