Ich war vor einigen Wochen an einen Punkt, wo nichts mehr ging. Weinend sah ich mich am Boden sitzen, meine Hände bedeckten mein tränenüberströmtes Gesicht, so, als ob ich Unterschlupf suchen würde. Ich schämte mich für meine Tränen, für mein Versagen. Wochenlang spürte ich damals eine nagende Unruhe. Das Erste, was ich frühmorgens nach dem Erwachen wahrnahm, war ein brennendes, einengendes Gefühl in der Brust. Es ließ nicht nach, begleitete mich den ganzen Tag und nahm mich vollkommen in Besitz. Ich konnte mich am Schluss auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf diese nagende Unruhe.
Woher kommt dieses Gefühl? Warum spüre ich es jetzt? Jetzt, wo ich dachte, dass ich auf einem guten Weg mit meiner Trauer war. Jetzt, ein Jahr nach dem Tod meiner Schwester, wo ich das erste Mal wieder Frieden spürte. Frieden mit dem, was geschehen ist. Und genau da, an diesem Punkt, wo ich annahm, dass es endlich aufwärts ging nach einem langen Jahr voll Krankheit und Trauer, machte sich meine Nervosität das erste Mal bemerkbar. Das war ein derartig dominierendes Gefühl, das mir sämtliche Freude nahm. Ich beschrieb es einmal als Teufel, der hinter mir steht und mich mit seinen große Klauen zu überwältigen droht. Der Teufel machte mir Angst. Ich wollte ihn nicht und konnte doch nichts gegen ihn tun.
Darf ich schwach sein?
In mir tobte ein Kampf – kann ich mein Schicksal annehmen? Kann ich das, was geschehen ist und mich an den Rand meiner Kräfte brachte, ohne Schuldgefühle, Wut und Verbitterung akzeptieren? Wie sehr kann ich mir selbst verzeihen, nicht mehr 100-prozentig leistungsfähig zu sein? Kann ich meine Schwäche und Unruhe annehmen, auch wenn sie zu einem Zeitpunkt kommen, der mir so überhaupt nicht in den Kram passt? Darf ich überhaupt schwach sein?
Angst klopft an die Seelentür
Ich visualisierte innere Bilder der Kraft, schöpfte Energie in ehrlichen Begegnungen und guten Gesprächen, in der Natur und der Stille. Das half kurzfristig. Doch am nächsten Morgen war er wieder da, der Teufel hinter mir. Und irgendwann kam der Tag, an dem ich kein Vertrauen mehr in mich hatte. Ich dachte, dass ich es nicht mehr schaffe. Das machte mir noch größere Angst, schließlich habe ich zwei Kinder, die auf mich angewiesen sind, auf meine Stärke, Ausdauer und Zuversicht. Wie schwach darf man als Mutter sein? Fragen und Gedanken wie diese befeuerten meine Angst zusätzlich. Sie klopfte mit geballter Faust an meine Seelentür und erinnerte mich daran, dass ich mich auf gefährlichen Wegen bewegte, dass ich „es“ eines Tages nicht mehr schaffen könnte.
Geht es ohne Chemie?
Und in dieser Zeit hörte ich immer wieder, warum ich mich so gegen die Einnahme von Tabletten, von Antidepressiva, wehre. Doch ich wollte das einfach nicht. Ich wollte mein Glück nicht von Tabletten abhängig machen. Ich wollte Heilung in mir selber finden. Ich verstand ganz einfach nicht, warum mein Körper so reagierte, schließlich funktionierte mein Geist „normal“. Ich stand morgens nicht auf und beklagte mein Leben. Ich war froh über meine Familie, froh darüber, was ist und was gut war. Ich wollte es ganz einfach ohne Chemie schaffen. Bis jener Tag kam, an dem nichts mehr ging …
Drei Wochen Hölle pur
So geht es nicht mehr weiter, sagte ich zu meinem Mann, getrieben von einem Gefühl, das so tief an mir nagte. Und so griff ich zu der Packung mit Tabletten, die schon so lange bei mir zu Hause lag, und schluckte die erste. Was dann kam, überstieg meine schlimmsten Befürchtungen. Ich weiß, dass ich auf jedes Medikament, das ich nehme, mit Nebenwirkungen reagiere, und befürchtete, dass das auch bei diesem Antidepressivum der Fall sein würde. Das ist auch „normal“, wie mir versichert wurde. Der Körper braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Mein Körper brauchte drei Wochen. Drei Wochen, die fast nicht auszuhalten waren – es waren drei Wochen Hölle pur. Die körperlichen Beschwerden waren bei Weitem nicht das Schlimmste. Migräne, Schwindel, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Zittern und natürlich diese Unruhe hielt ich aus, wenn auch nur schwer. Was die Tabletten aber anfangs mit meiner Psyche machten, war nicht zu ertragen. Es gab Tage, an denen ich nicht die Kraft hatte, mir ein Glas Wasser zum Trinken zu holen. Tage, an denen eine leere Milchpackung tiefste Ängste in mir auslöste, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, in ein Geschäft zu gehen und neue Milch zu kaufen. Es gab Tage, an denen ich wie ein Embryo zusammengerollt auf der Couch lag und nicht wusste, ob meine Tränen je wieder versiegen würden.
Doch irgendwie ging es dann doch. Jeder dieser Tage voll Grauen und Schrecken hatte auch Momente des Lichts. Das waren mitfühlende Worte meines Mannes, liebevolle Streicheleinheiten meiner Kinder, das waren einfühlsame Nachbarinnen, die mir unbeirrt Trost und Mut spendeten, das waren Menschen, die mir bedingungslos zur Seite standen.
Facetten der Genesung
Und irgendwann kam der Tag, wo es aufwärts ging. Die Nebenwirkungen ließen nach. Ich fühlte mich gut und war unsagbar glücklich über dieses „gut“. Meine Therapie setze ich natürlich fort. Der Teufel, der mir im Nacken saß und manchmal noch immer sitzt, wird jeden Tag kleiner und es gibt Tage, an denen ich ihn überhaupt nicht mehr spüre. Ich fühle mich nun, vier Wochen nach Beginn der Einnahme, nicht mehr als hilfloses kleines Mädchen, das den harten Winden des Lebens schutzlos ausgeliefert ist, sondern als erwachsene Frau, die ihr Leben in der Hand hat. Ich kann wieder lachen und mich unbeschwert an dem erfreuen, was gut ist. Ich nehme diese Tabletten ein und wehre mich nicht mehr dagegen. Ich bin froh, dass es sie gibt. Alleine davon verspreche ich mir aber keine Heilung. Ich gehe nach wie vor in Therapie. Es hilft mir ungemein zu verstehen, was mit mir passiert ist und zu akzeptieren, dass ich nicht versagt habe, sondern mein Weg der Genesung, mein Weg durch die Trauer viele verschiedene Facetten hat.