„Mama, spielen wir Tante!“, überraschte mich mein Sohn vor einigen Wochen. „Wie geht dieses Spiel?“, erwiderte ich verwirrt. Mir war nicht klar, warum er plötzlich an meine verstorbene Schwester dachte. „Ich bin die Tante und sterbe. Dann wohne ich am Friedhof unter der Erde“, war seine simple Erklärung. „Und was muss ich dabei machen?“, fragte ich verwirrt. „Du bist die Oma und bist gaaanz traurig, weil ich gestorben bin“, gab er als Antwort. Ich stutzte und wusste nicht, ob ich dieses Spiel spielen wollte. Ihm schien es aber gar nichts auszumachen. Er sagte das alles zwar mit einem bemüht traurigen Gesicht, doch nahm er es gleichzeitig einfach zur Kenntnis. Also spielten wir dieses Spiel, bei dem ich mir insgeheim wünschte, auch diese kindliche Fähigkeit zu haben, die Trauer als das zu akzeptieren, was sie ist: traurig, aber unumgänglich; nicht behaftet mit dem unbändigem Wunsch, alles ändern zu wollen; nicht verbunden mit nagenden Gefühlen der Wut und des Selbstmitleides.
Den toten Opa sehen
Einige Tage später überraschte mich mein dreijähriger Sohn erneut, als wir gerade unterwegs waren. Er schaute mich mit großen Augen an und sagte: „Mama, ich mag ihn soooo gerne sehen!“ „Wen denn?“, fragte ich verwirrt, weil ich keine Ahnung hatte, was er meinen könnte. „Ja, Opa! Den toten Opa!“ Ich stutzte erneut. Wie kam er jetzt darauf, war mein erster Gedanke. Dieser wich aber gleich einer tiefen Bestürzung: Ich erzähle meinen Kinder viel von ihrem Opa, habe ihnen aber noch nie ein Bild von ihm gezeigt. „Ich zeige dir ein Foto von ihm, wenn wir wieder zuhause sind“, antwortete ich. Die Augen strahlten und er freute sich riesig. Dann wurde er jedoch mit einem Schlag ernst. „Warum hat er nicht aufgehört mit Alkohol?“, fragte er traurig. Diese Frage hat er mir schon einmal gestellt und ich bin immer wieder unsicher, was ich darauf antworten soll. Was kann man einem dreijährigen Kind sagen? Wie viel Wahrheit ist gut und richtig? Kinder sollte man nicht belügen, heißt es in allen Ratgebern zur Trauer. Man sollte ihnen aber auch nur so viel anvertrauen, wie sie bereit sind zu wissen. Meine beiden haben diesbezüglich eine große Bereitschaft. Mein Fünfjähriger kam neugierig näher und antwortete: „Weil er nicht aufhören konnte.“ „Warum nicht?“, wollte nun der Jüngere wieder wissen. Ich seufzte. Das Thema schmerzt mich ungemein. Zu wissen, was mein Vater alles versäumt, was er sich selbst genommen hat, indem er seinem Leben ein Ende setzte, ist für mich schwer zu ertragen. Dass er meine beiden wissbegierigen Kinder nie kennenlernen kann, dass sie nie mit ihm spielen, nie mit ihm lachen können, dass wir stattdessen auf dem Friedhof stehen und Kerzen anzünden, dass ich diese Fragen beantworten muss und sie schon in jungen Jahren mit Themen konfrontiert sind, die mein Herz zusammenschnüren, tut weh. Sehr sogar.
Eine hässliche Narbe bleibt zurück
„Weil es manche Menschen gibt, die viel mehr Alkohol trinken, als gesund ist“, antwortete ich. „Warum hat er dann keinen Saft getrunken?“, hackte der Dreijährige erneut nach. „Weil er krank war und das nicht konnte“, sagte ich resigniert. Damit gab er sich zufrieden und wandte sich wieder seinem Spiel zu. Ich blieb traurig zurück. Ich will keine Geheimnisse vor meinen Kindern haben, was unsere Familiengeschichte betrifft. Es fällt mir aber schwer, die Wahrheit zu erzählen. Weil sie nicht schön ist. Im Gegenteil: Ich habe diese Wahrheit lange als hässliche Narbe mit mir herumgetragen. Dieses Adjektiv gab ich selbst aber meiner Vergangenheit. Meine Kinder hingegen scheinen überhaupt kein Problem damit zu haben. Es ist, wie es ist, scheinen sie mir mitzuteilen mit ihrer unbekümmerten Art, wie sie mit dem Tod meiner Schwester und meines Vaters umgehen. Es ist, wie es ist, sollte auch ich mir öfter denken. Ändern kann ich nichts. Das wie aber, wie ich also meine Vergangenheit betrachte und wie ich mit ihr umgehe, liegt ausschließlich in meiner Hand.