Die Zeit vergeht – es ist mittlerweile 1,5 Jahre her, seit ich meiner Schwester Lebewohl gesagt, seit ich ihren toten Körper berührt und dann die Tür ihres Zimmers auf der Palliativstation für immer geschlossen habe. Was hat sich verändert in dieser Zeit? Während mich in den ersten Monaten meiner Trauer das „Nicht-Begreifen-Können“ begleitete, ist es nun eine große Traurigkeit, die vorherrschend ist. Dass sie weg ist und nie wieder kommt, ist ein Stückchen greifbarer geworden, auch wenn ich wohl nie so richtig realisieren werde können, warum das alles so schnell gehen musste, warum ein Körper so schnell sterben kann.
Die Seele macht dicht
Ich habe mir meine Trauer ganz anders vorgestellt, sofern man sich einen Umgang mit so einem großen Schmerz überhaupt vorstellen kann. Ich dachte, dass ich sehr viel mehr weinen werde müssen, als ich mich auf dem Weg nach Hause von der Palliativstation gemacht habe. Jetzt, Monate später, erkenne ich, dass ich die ersten Wochen nach dem Tod meiner Schwester wie gelähmt verbracht habe. Mein Schmerz und jener, den ich rund um mich herum wahrnahm, waren zu groß. Meine Seele machte dicht. Die Trauer suchte sich ein anderes Ventil und fand den Weg über meinen Körper. Ich war noch nie so oft krank wie in den vergangenen 1,5 Jahren. Das zehrte und zehrt noch immer. Und nach Monaten körperlicher Schwäche zeigte auch meine Seele Spuren. Ängste kamen auf, die ich lange für überwunden hielt. Alte Wunden brachen auf, die ich schon längst verarbeitet glaubte. Alles war in Aufruhr. Was mich in dieser Zeit am meisten verletzte, war, dass ich es einfach nicht begriff, warum das alles passierte. Warum ich so sehr gepeinigt war, wo ich mich doch so intensiv mit allem auseinandersetzte. W-a-r-u-m. Saublöde fünf Buchstaben, wenn ich das so schreiben darf. Sie bringen nichts außer Schmerz und Elend.
Eine kraftraubende Abwärtsspirale
Was ist heute anders als vor 1,5 Jahren? Ich bin gefasster, der Schmerz brennt nicht mehr mit einer alles verzehrenden Intensität. Die Nachwirkungen jener Monate, die mich so an meine Grenzen gebracht haben, sind aber noch spürbar. Ich bin einfach nicht belastbar. Das ist eine Tatsache, die einen in unserer Gesellschaft fast zum Außenseiter macht. Sobald etwas meine Routine stört, reagiere ich mit Ängsten. Diese wiederum rauben Kraft. Eine Abwärtsspirale beginnt. Da hilft nur durchatmen und vertrauen, dass alles vorbei geht, dass das Brennen in der Brust nachlässt, dass die Unruhe sich legt. Ich kann nicht an die Zukunft denken, weil mir mein wenig belastbares Dasein in der Gegenwart kein schönes Bild verspricht. Ich kann nur jeden Tag so nehmen, wie er ist. Und, noch wichtiger: Ich kann nur lernen, mir auch als wenig belastbarer Mensch Anerkennung zu schenken.