Wenn man trauert, vergeht die Zeit anders: langsamer, stiller, beschwerlicher. Vor allem an Tagen, wie diesem heute, ist das mehr als spürbar. Meine Schwester hätte heute Geburtstag. Diesen 28. Februar erlebe ich nun schon das zweite Mal ohne sie. Das tut weh. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, möchte man meinen. Für Trauernde sind zwei Jahre nichts. In dieser kurzen Zeit ändert sich vielleicht das Begreifen. Man hat den Tod irgendwie akzeptiert. Was sich nicht ändert, sind der Schmerz und das Vermissen. Während Außenstehende annehmen könnten, man wäre „über dem Berg“, kämpft man sich eigentlich noch immer hoch, kraftlos und außer Atem.
Ein Nebeltag im Herzen
Und so stehe ich an diesem heutigen Tag auf und zünde eine Kerze an. Sie soll mir Licht spenden an diesem Nebeltag in meinem Herzen. Ich zünde sie bewusst für mich an, weil ich fest davon überzeugt bin, dass meine Schwester im Licht steht. Das hat sie sich schlicht und einfach verdient. Ich schenke ihrem Foto, das in der Küche neben der brennenden Kerze steht, ein zaghaftes Lächeln und umarme sie im Geiste. Dann beginnt mein Alltag …
Er fällt mir schwer. Meine Kinder lärmen heute lauter als sonst. Ihr Dauerredefluss hallt stärker als an anderen Tagen in meinen Ohren. Ich bin gereizt und unzufrieden, verliere bei Kleinigkeiten die Geduld und suche irgendwann Rückzug im Badezimmer. Hier lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Sie nutzen diese Einladung und fließen in Strömen. Schwesterherz, was hätte ich dir alles zu sagen …
An meine Schwester
Liebe Schwester, alles Gute zum Geburtstag! So würde mein Telefonat mit dir beginnen. Wie an jedem anderen Geburtstag auch, hältst du dich nicht lange damit auf. Geburtstage waren nicht dein Ding. Es gibt also keine großen Feierlichkeiten heute. Wir kommen stattdessen gleich auf die folgenden Geburtstage zu sprechen. Was schenkst du Mama, wäre deine übliche Frage an mich gewesen. Sollen wir uns etwas gemeinsam überlegen, meine Antwort. Wann kommt ihr wieder zu Besuch, würdest du dich noch erkundigen. Ich weiß noch nicht, wäre meine unverbindliche Antwort.
Mehr Achtsamkeit
Ein vermeintlich belangloses Gespräch, das wir viele Male geführt haben. Viele Male, in denen ich mir nicht bewusst war, wie wertvoll jede einzelne Minute sein sollte, in der ich deine Stimme höre. Oft habe ich neben den Telefonaten aufgeräumt, am Computer gearbeitet oder Essen gekocht – ich war abgelenkt und habe dir nicht meine ganze Aufmerksamkeit geschenkt. Diesen Fehler würde ich nicht mehr machen, hätte ich Gelegenheit dazu. Die habe ich aber nicht. Dein verdammter Krebs hat sie mir genommen.
In letzter Zeit ertappe ich mich oft dabei, wie ich wütend werde. Wütend nicht nur auf deine Krankheit, sondern auch auf dich selber. Natürlich ist das sinnlos. Die Wut zu unterdrücken klappt aber nicht. Sie raubt mir Energie und das kann ich nicht mehr zulassen. Und so entschwinde ich in den Garten, wo ich Löcher grabe, Pflanzen ausreiße oder betoniere. Das hilft. Während ich wütend mit dem Spaten in den Boden steche, denke ich an deinen krebszerfressenen Magen, der uns alles genommen hat. Während ich in der halbgefrorenen Erde grabe, streite ich gedanklich mit dir darüber, ob du etwas ändern hättest können. Das Ergebnis ist stets dasselbe: Du bist und bleibst tot. Ich aber – atemlos und schmutzig von oben bis unten – kann besser damit umgehen. Das Leben gehört den Lebenden, heißt es. Ich will es leben, mit dir in meinem Herzen.