Langsam pflücke ich die reifen Himbeeren von den Sträuchern und lege sie behutsam in ein kleines Gefäß. Ihr verführerischer Duft strömt mir in die Nase. Auf meiner Haut spüre ich die Sommersonne. Mich überkommt ein friedvolles Gefühl, umgeben vom frischen Grün der Wiese und dem melodischen Zwitschern der Vögel. Dann donnert die Wirklichkeit mit Überschall in mein Bewusstsein. Sie stirbt, bald. In ein paar Wochen ist sie tot.
Die Türen schließen sich hinter mir und ich stehe dicht gedrängt im Aufzug. Die Schale mit den Himbeeren halte ich fest umklammert. So, als wäre sie mein Schlüssel zur Wirklichkeit da draußen, zu meinem normalen Leben fernab von Kummer und Leid. Plötzlich komme ich mir unsagbar dumm vor. „Kann sie die überhaupt essen?“, denke ich besorgt. Was, wen ihr krebszerfressener Magen die Beeren nicht verträgt? Als sich die Türen des Aufzugs öffnen, bin ich versucht, das Gefäß mitsamt dem betörenden Inhalt wegzuschmeißen. Es wäre völlig egal. Nichts ist mehr, wie es einmal war.
Und dann stehe ich vor ihr und strecke ihr mit beiden Händen die Schale freudig entgegen. Wie ein schüchternes Kind verharre ich erwartungsvoll in diesem trostlosen Raum. Sie strahlt mich an. Erleichtert suche ich nach einem Platz für die Himbeeren auf dem überfüllten Nachtkästchen. Schmerztabletten, Tee und Taschentücher türmen sich dort bereits. Die Tränen fließen in diesen Tage viel. Schließlich drücke ich ihr die Schale in die Hand. Sie kostest drei Beeren und stellt sie beiseite. Ich könnte mich verfluchen. Sie verträgt sie nicht. Wie dumm von mir.
Wir reden viel. Die Himbeeren sind vergessen, auch wenn ich den Gedanken nicht ablegen kann, dass sie selbst nie wieder welche pflücken wird können. Weil sie tot ist, wenn sie nächstes Jahr reif sind. Die Welt dreht sich weiter, ohne sie. Wie wird es mir dabei ergehen? Ich kann nicht an diese Zeit denken. Alles verkrampft sich in mir.
Als es Abend wird, verabschieden wir uns. Unbeabsichtigt küssen wir uns dabei statt auf die Wangen auf den Mund. Dort spüre ich das Gefühl ihrer Lippen noch den ganzen Weg zurück zum Auto. Es war ein Kontakt von wenigen Sekunden, der dennoch haften blieb. Wie schön das Leben sein kann, wenn man bewusst Momente wahrnimmt, denke ich tiefsinnig. Für einen kurzen Augenblick lichtet sich meine Traurigkeit, und ich kann ihren nahenden Tod akzeptieren. Dann überrollt mich wieder der Schmerz. Sie ist so jung. Wie darf das sein? Gleichzeitig schnürt mir die Angst den Magen zu. Mir wird übel; mein schwacher Kreislauf macht sich bemerkbar. Ob ich den Weg nach Hause sicher schaffe? Ich drehe das Radio laut auf und genieße den einzigartigen Duft nach Hochsommerabend. Die Fahrt auf der Autobahn verläuft ruhig. Rechts von mir geht die Sonne in einem riesigen orangefarbenen Ball unter. Ich kann den Anblick sogar genießen.
Tage später fahre ich wieder in die Stadt. Der Asphalt flimmert, als ich von der Tiefgarage auf die Straße trete. Zufällig sehe ich ein Blumengeschäft und gehe hinein. Wieder einmal brauche ich etwas, das ich in Händen halten kann, wenn ich sie besuche. Damit mache ich mich auf den Weg. Es ist ein anderer und dennoch der gleiche. Die gleichen langen Gänge, die gleiche trostlose Beleuchtung, die gleichen Gerüche. Nur das Krankenhaus ist ein anderes. Nun liegt sie auf der Palliativstation, nach nur drei Wochen Spitalsaufenthalt. Unsere Hoffnung ist tot. Sie soll bald folgen.
Ich habe viel darüber nachgedacht, wie es mir wohl gehen wird, wenn ich sie hier das erste Mal besuche. Tatsächlich kommt alles ganz anders: Es ist weniger gruselig, weniger schlimm. Warum, frage ich mich, und erhalte bald eine Antwort: Die Menschen, die auf dieser Station arbeiten, haben sich ihr Mitgefühl bewahrt. Sie begrüßen mich herzlich und sehen nicht irritiert weg. Sie sprechen mich direkt an und drehen sich nicht verlegen um. Ich fühle mich wohl … und möchte dennoch so schnell wie möglich von hier fort. Hier also sagen wir Lebewohl. Hier nehmen wir Abschied. Hier beginnt das Sterben, denke ich verängstigt. In diesem Moment ist das zum ersten Mal richtig spürbar für mich. Damit kann ich nicht umgehen. Ich schließe die Tür zu ihrem Zimmer und laufe weg.
Cola und Eis. Diese zwei Dinge werde ich immer mit ihr in Verbindung bringen. Ich trinke so viel Cola wie noch nie in meinem Leben, während diesen letzten gemeinsamen Wochen. Es putscht meinen Kreislauf; es liefert Kalorien. Genauso wie das Eis mit dem vielen Zucker und Fett. Beides brauche ich dringend, schließlich bin ich gezeichnet. Das Gesicht ist eingefallen, die Augen haben ihren Glanz verloren, die Knochen stehen vor. Ich bin damit in bester Gesellschaft. Ihre Knochen kann ich zählen. Ich wusste nicht, dass man überhaupt so dünn werden kann, ohne tot zu sein. Wie geht das? Sieht Sterben so aus? Sie liegt nur da, kann längst nicht mehr sprechen. Fünf Tage blieben uns zum Kommunizieren. Fünf beschissene, kurze Tage. Wer hätte geahnt, dass uns das als erstes genommen werden würde? So vieles wollte ich ihr noch mit-teilen. Doch nun können wir uns nicht mehr unterhalten, nicht über den nahenden Tod sprechen, keine Gedanken und Gefühle austauschen. Ängste und Sorgen bleiben ungeteilt. Das Leben ist hinterhältig.
Und so sitze ich hier, nehme sie bei meinen Besuchen in die Arme und berichte von der Welt da draußen, von Sonne und Sommer, von meinen lebensfrohen Kindern und von mitfühlenden Freunden, von den Begräbnisvorbereitungen, die ich fast fertig habe, von meiner Angst vor dem Leben ohne sie, von Versäumnissen, die ich bereue. Dann ist es still. Nur zu hören ist unsere Atmung. Ihr letzter Lebensatem wird von tiefen Schluchzern meinerseits unterbrochen. Ich verliere immer wieder die Fassung. Dann verlasse ich den Raum, spreche mit dem Pflegepersonal, schöpfe neue Kraft und komme zurück. Immer und immer wieder, bis ich das letzte Mal die Tür zu ihrem Zimmer öffne.
Der Anblick ist diesmal ein anderer. Sie ist noch dünner. Ein Skelett mit Haut. Sie ist tot. Ich schreie. Aus tiefster Seele. Meine Schwester ist tot. Das Schreien geht in Weinen über, bis ich leer bin. Dann ist es still. Nur das Surren der Klimaanlage ist zu hören. Erst jetzt wird mir klar, dass der tote Körper gekühlt werden muss. Ein Gedanke, der mir unerträglich ist. Ich schalte das Gerät ab, öffne das Fenster und atme durch. Dann setze ich mich neben sie und betrachte das, was sie einmal war. Die langen, schönen Finger, die glänzenden Haare, das einzigartige Gesicht. Meine Schwester war wunderschön. Als ich ihre Hand ergreife, zucke ich zurück. Sie ist eiskalt. Damit habe ich nicht gerechnet. Wie naiv. Sie ist schließlich tot. Dennoch bin ich überfordert angesichts der Kälte, die der Körper abgibt. Ich suche regelrecht nach einer Stelle, die noch warm ist und werde fündig: das Herz. Meine Schwester schenkt mir ein warmes Herz zum Abschied.
Es ist kühl draußen im Garten. Ich schleiche rastlos herum. Die Blätter der Bäume verfärben sich und bereiten sich auf den nahenden Winter vor. Ich will nicht, dass sich etwas verändert. Ich hasse den Schnee, die Kälte, den Tod der Natur. Zu viel musste ich geben in den letzten Wochen. Ich bin erschöpft. Kraftlos setze ich mich auf die Wiese, schließe die Augen und spüre die Strahlen der Herbstsonne auf meinem Gesicht. Ein warmer Gruß von oben. Ein Kinderruf durchbricht meine Welt. Langsam richte ich mich auf. Dabei haftet sich mein Blick auf einen roten Punkt inmitten der dürren Sträucher. Als ich näher komme, sehe ich eine einzelne Himbeere am kahlen Geäst hängen.