Bald naht der Geburtstag meiner Schwester. Dass mich dieser Umstand beschäftigt, zeigen mir meine Träume gerade sehr deutlich: Täglich kommt sie darin vor. Mal lebend, fit und gesund, mal sterbenskrank, traurig und verzweifelt. Immer gleich aber ist das klare Bild, das ich in meinen Träumen von ihr habe. Ich sehe meine Schwester deutlich und real. Ein Bild, das meine Erinnerung zweieinhalb Jahre nach ihrem Tod nicht mehr so ganz zustande bringt. Je mehr Zeit vergeht, umso undeutlicher wird diese. Mit Fotos und Videos kann man sie zwar lebendig erhalten, doch an die Traumbilder kommt auch das nicht heran.
Und so wache ich gerade jeden Tag mit gemischten Gefühlen auf. Ich bin traurig, weil ich den tragischen Tod meiner Schwester immer wieder aufs Neue erlebe. Gleichzeitig bin ich aber auch dankbar dafür, dass ich sie in diesem klaren Licht sehen darf. Sie ist mir in meinen Träumen ganz besonders nahe, wir können miteinander reden, uns berühren und umarmen.
Das Geschenk Zeit
Genau diese Berührungen und Umarmungen tauchen sofort in meiner Erinnerung auf, wenn ich an die letzte Begegnung mit meiner Schwester denke. Damals, als sie auf der Palliativstation gestorben ist, habe ich ihren toten Körper liebevoll berührt und Abschied genommen. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, bin ich dankbar, dass ich diese Möglichkeit hatte. Meine Schwester ist vor der Corona-Pandemie gestorben. Auf der Palliativstation im Krankenhaus gab es keine Besuchseinschränkungen. Wir hatten die Freiheit, uns die Zeit zu nehmen, die wir brauchten. Das war ein Geschenk, wenn auch ein furchtbar Schmerzliches, denn der Umstand ihres Todes ist und bleibt äußerst tragisch.
Um Zeit zu haben für das Sterben, muss man sich damit auseinandersetzen. Wir konnten das zum Glück, weil meine Schwester offen und ehrlich ihren nahenden Tod kommunizierte. Sie ging ihren letzten Weg mit einer Mutigkeit, die ich grenzenlos bewunderte. Ich habe mich oft gefragt, woher sie diese Stärke nahm. Sie hatte sie einfach, ihr Leben lang.
Kostbare Zeit
Der viel zu frühe Tod meiner Schwester hat mein Leben nicht völlig verändert. Ich ärgere mich noch immer über Kleinigkeiten, was ich im Nachhinein oft nicht verstehen kann. Ich konzentriere mich manchmal noch immer auf Nichtigkeiten, denen ich besser keine Bedeutung geschenkt hätte. Ich lasse mir noch viel zu oft von Dingen Energie rauben, denen ich besser den Rücken gekehrt hätte. Und doch ist vieles ganz anders. Ich kann aus guten Erlebnissen in meinem Leben unglaublich viel Energie schöpfen, auch wenn diese Momente oft nur von kurzer Dauer sind. Ich weiß um die Flüchtigkeit und Zartheit des Glücks. Dadurch kann ich es mit offenen Armen begrüßen und mit lachendem Gesicht verabschieden. Es kommt schließlich wieder. Ich weiß, dass meine Zeit kostbar ist. Genauso wie die Zeit, die ich mit meiner Schwester verbringen durfte, kostbar war. Ich kann sie, im wahrsten Sinne des Wortes, noch kosten, denn die Liebe währt über alle Zeiten und Leben hinweg.